Es gibt Menschen, die muten ihrem Magen zu viel zu und ruinieren ihn und sich. Und es gibt Politiker, die muten ihrem Volk zu viel zu und ruinieren es.
Einen wirtschaftlichen Zusammenbruch nennt man einen Ruin. Ein kriegerisches Ende ist auch ein Zusammenbruch, und von ihm sprechen dann Ruinen.
Ruinen haben eine eigene Geschichte, die unverhohlen und ohne Lügen als stumme Zeugen von Elend, Not und Feuersbrunst dastehen und allen einstigen Jubel und Fortschritt vergessen lassen. Als kleines Mädchen staunte ich über diese steinernen Knochengerippe und Mama ermahnte mich hundertmal: „Dass du mir ja nicht in dem Nachbarhaus spielst!“ Nachbarhaus war gut, denn aus den verkohlten Backsteinmauern wuchsen die Brennnesseln und schmückten die Fenstersimsen gerade so, als wollten sie die kümmerlichen Reste wie Geranien trösten. Und wenn ich dann nach Hause kam und Mama mir wieder einen Glassplitter aus der Fußsohle zog, schimpfte sie und sagte: „Du unfolgsames Mädchen! Warst du doch wieder in dem alten Gemäuer?“ Und dann schüttelte ich mit dem Köpfchen und meinte: „Nein, nicht da, woanders!“ Und Mama seufzte und sagte: „Ja, wo sollen denn auch die Kleinen auf der Straße spielen? Überall diese Ruinen, die auf den Wiederaufbau warten! Und bis dies geschieht, sind sie selber groß und haben wieder eigene Kinder!“
Unsere Stadt war straßenweise das reinste Trümmerfeld. Am 1. März 1945 warfen Amerikaner 900 Sprengkörper und 50.000 Brandbomben auf das Zentrum und innerhalb 40 Minuten war dieser entsetzliche Spuk zu Ende. Der Bahnhof sollte als großer Hauptknotenpunkt getroffen werden, das herrliche Schloss ging in den Flammen auf. Nach dem Kriege aber waren unsere Regierenden „Leut mit Köpf“, die nicht lange diskutierten, sondern Gesetze mit Hand und Fuß schufen, und die Bevölkerung legte nicht die Hände in den Schoß, sondern griff zu Hacke und Spaten. So entstand mühsam und langsam ein neues Deutschland, das vom Ausland tot gesagt wurde.
Nie vergesse ich die gespenstischen Ruinenfelder, und wenn wir Kinder von der Polizei aus den Mauerresten geholt wurden, so waren die Schutzleute um uns Kinder besorgt, wenn sie uns auch streng ermahnten, uns eine andere Gegend zum Spielen zu suchen. Noch heute habe ich den strengen Modergeruch der Mahngerippe in der Nase. Alles Unangenehme vermengte sich. Hundehäufchen, Brennnesseldüfte, wilder Flieder, Abfallgerüche, feuchte Erde und Lehmboden, Feuerstellen umherziehender Vagabunden, die Asche und Dreck zurück ließen, und viele, viele Glasscherben – das war die tote Welt inmitten einer lebendig werdenden Stadtmitte. Manchmal hangelte ich die schmutzigen Backsteinwände hoch, und dann kam der Mörtel von den Wänden, und dann ging ich nach Hause und Mama schalt: „Wie der Max und der Moritz in einer Person! Wie ins Mehl gefallen!“ Hin und wieder wurden auch Bomben entschärft, und dann gab es in der Nachbarschaft wegen der Absperrungen große Aufregungen und Mama sagte: „Wir müssen beten, dass dem Sprengmeister nichts geschieht!“ Papa konnte trotz seiner Gutmütigkeit sehr mit uns schimpfen, wenn wir in den Ruinen spielten und sagen: „Kinder, das gefällt mir nicht! Heraus mit euch! Springt auf die Wiese!“ Ja, und dann zogen wir in den Metzgerbau, und die Akazien blühten und die Buchenblätter grünten und die Pappeln erhoben sich zum Himmel und allmählich verschwanden auch die Überbleibsel eines schrecklichen Krieges. Ich denke eigentlich noch sehr oft an jene ruinierte Zeit, die eine heile, ach so heile Welt schaffen wollte!
© Barbara Mitteis