Während wir Schulkinder in den Klassenräumen büffelten, sorgte sich der Herr Widder um einen sauberen Schulhof, um Eierbriketts und Holz und um das Schwarze Brett. Herr Widder war unser Hausmeister und war eine seltsame Mischung von Anthony Quinn und Theo Waigel. Seine buschigen Augenbrauen waren nur viel unordentlicher im Gesicht.
Der stämmige Mann wirkte auf uns Kleinen wie ein zorniger Riese, auch wenn er nicht den Mund auftat. Herr Widder konnte wie ein Löwe brüllen wenn ihm etwas nicht passte und er fasste die herumtollenden Buben am Hinterquartier und stellte sie neben den Papierkorb. Dort mussten sie auf zerknüllte Butterbrotpapierchen und sonstigen Unrat aufpassen, was den Buben natürlich nicht passte. Zu wilde kleine Mädchen hob er am Schlawittchen fest und sie mussten Pergamentpapierchen aufsammeln und zu den strammstehenden Papierkorbaufpassern tragen. Ich hatte große Furcht vor dem bärenstarken Herrn Widder und benahm mich auf dem Schulhof nie außer der Reihe und brauchte deshalb auch nie den Unrat auflesen.
In meiner freien Zeit mied ich die Schule, den Hof und den Hausmeister und tollte außerhalb jeglicher Sichtweite des strengen Mannes in meinem eigenen Revier herum.
Bei Herrn Widder hätte ich sowieso keinen Spielraum gehabt, so groß der Schulhof auch war. Der Hausmeister besaß einen großen Wachhund, der den lieben langen Tag pflichtbewusst knurrte und dem ich gar zu gerne aus dem Wege ging. Wenn ich die erste oder die letzte Schülerin war, ging ich manchmal ganz alleine über die Kieselsteinchen. Und dann saß der Vierbeiner vor dem großen Tor und wachte über jede Bewegung und hinderte mich am rechtzeitigen Kommen. Ich hatte Angst vor dem knurrenden Ungeheuer und vor dem letzten Läutezeichen. Ich hätte dem Hund ja gerne mein Pausenbrot geschenkt, aber es war meist kein Wurstbrot, sondern ein Käsebrot oder ein Radieschenbrot. Zum Glück tauchte hie und da Frau Widder auf und die rief dann den zotteligen Steuerzahler und ich konnte erleichtert in die Klasse rennen.
Herr Widder war sehr geschickt für Reparaturen und so wurde ich manchmal zu ihm geschickt, wenn es im Schulraum an irgendeiner Ecke klemmte. Bei solchen Gelegenheiten brummte er dann auch wirklich recht freundlich sein: „Ich komme“.
Selten kratzte ich mein Kleingeld im Beutelchen zusammen und kaufte mir zwei Fünferbrezeln, weil die nach mehr aussahen als eine Zehnerbrezel. Dann reichte mir die Hausmeisterin das Laugengebäck recht freundlich und ich lächelte sie schüchtern an.
Herr Widder verkaufte die Brezeln nur, wenn seine Frau keine Zeit hatte. Weil er auch nie Zeit hatte, speiste er die Kinder wie die Kadetten im Eiltempo ab. Jeder musste die Groschen parat haben, sonst brüllte er durch die Schulgänge, dass sogar dem Oberlehrer bange wurde.
Ich weiß bis heute nicht, wie die zarte Frau Widder mit ihrem Mann auskommen konnte, aber es liefen etliche kleine Widder in der Dienstwohnung herum und so musste es mit dem Familienleben schon klappen.
Ich entsinne mich, dass ich ein einziges Mal in den großen Ferien am Schulhof vorbei lief und dieses Erlebnis blieb mir im Gedächtnis. Ein enormer Berg von Eierkoks lag auf dem Platz vor dem Heizungsgebäude. Da stand der Herr Widder, klein, unbeobachtet, schmutzig, mit einer großen Mistgabel und beförderte die Kohlen damit in eine große Luke den Keller hinab. Der Hund hatte sich wohl vor der Arbeit gedrückt, denn er war nirgendwo zu sehen. Dem Hausmeister lief der Schweiß von der Stirne und der Kohleberg wollte und wollte nicht kleiner werden. Die Lust zum Brüllen war ihm wohl vergangen und hie und da ließ er lieber ein Bier die Kehle hinunter laufen.
Trotzdem ich ein Kind war begriff ich, dass der Mann in der Hitze Schwerstarbeit verrichtete, damit wir im Winter bulligwarme Klassenräume hatten. Und er stand dabei so armselig und hemdsärmlig und erschöpft da, dass sich meine Kinderseele zu regen begann. Herr Widder konnte nicht wie ich sagen „ich gehe ins Schwimmbad“. Er schippte seinen Eierkoks in der Mittagsglut und freute sich wohl auf eine Dusche.
Nach den großen Ferien sah ich den Hausmeister mit anderen Augen an. Ich grüßte ihn still und freundlich, aber meine Furcht war verflogen. Es war wohl unbewusst, dass ich ihn plötzlich als Menschen betrachtete. Ein Mensch, der seine Arbeiten tat, die kaum jemand sah. Die einzige Angst, die geblieben war, war die Angst vor dem zotteligen Steuerzahler. Aber gegen diese Angst konnte ich ja anlaufen, denn es gab ein Mittel dagegen. Und dieses Mittel hieß Pünktlichkeit – Pünktlichkeit in der Menge!
© Barbara Mitteis