Die Frau Hornung
Wenn Mama zu mir kleinem Knopf sagte: „Komm, wir müssen noch zu Frau Hornung“, dann lief ich gerne mit in das Geschäft, weil ich dort hineinpasste. Frau Hornung hatte einen Knopfladen.
Sie selbst hatte gar nichts frühlingshaftes an sich, sie wirkte eher wie ein wohlig warmer Herbsttag, und mollig und sonnig stand sie hinter ihrer altmodischen und langen Holztheke und suchte nach Knöpfen und Reihgarn. Frau Hornung war eine große, stattliche Frau, die immerzu weiße gestärkte Blusen und schwarze Röcke bevorzugte. Ihre ungeheure Oberweite steckte in einem straffen Korsett und wirkte daher eckig wie ein Schilderdreieck.
Die Geschäftsinhaberin behandelte Fädchen und Mädchen gleichermaßen ordentlich, und ich sah ihr fasziniert zu, mit welcher Behändigkeit die dicke Dame den dünnen Einziehgummi um Daumen und Handgelenk wickelte. Bei Frau Hornung gab es fast alles, was die sparsame Hausfrau in den sparsamen Zeiten benötigte. Mama benötigte am allermeisten Stopfgarn. An den stillen Radiomusik untermalten Abenden gähnten ihr große runde Sockenlöcher, durchwetzte Pulloverärmel und durchbohrte Fäustlinge auf dem Nähtischchen entgegen.
Frau Hornung fragte nach der Farbe der Stopfwolle, tütelte Fadenröllchen ein und lächelte zu mir herunter. Ich mochte sie gerne. Sie hatte stets gepflegte dunkle Dauerwellen, liebe braune Augen, und wenn sie lachte, glänzte ein Goldzahn an der Ecke, den ich sehr bewunderte.
Die Bedienungen hinter der Theke waren allesamt freundlich und ausgeglichen, und jedes der Mädchen sprang und kletterte Leitern hinauf und hinunter, um den vielen Wünschen emsig nachzukommen. Frau Hornung verkaufte elegante Seidenstrümpfe und solide Bändelchen, und sie tat alles mit einer unglaublichen Geschicklichkeit, ja Eleganz. Ich denke noch hie und da an die gute Frau und an die guten alten Zeiten, wo gestopfte Strümpfe und Socken noch an der Tagesordnung waren. Und ich scheue mich auch nicht zu erwähnen, dass ich noch heute gerne geflickte Unterwäsche und gestopfte Kniestrümpfe trage. Solange alles sauber ist und seine Ordnung hat, ist das keine Schande. Eine Schande ist nur, wenn man jene schlechte und doch gute Zeit vergisst!
Die Frau Etzkorn
Zu Frau Etzkorn trug Mama ihre Laufmaschen!
Die Reparatur einer Laufmasche kostete damals 10 Pfennige, und so wurde jeder Strumpf erneuert und erhalten, solange das dünne gute Stück nur hielt.
Frau Etzkorn hatte ein Miederwarenfachgeschäft und eine tadellose Figur, die sie einem straff sitzenden Korsett verdankte. Sie war immer gleichmäßig freundlich und fingerte behend die richtigen Größen der Unterwäsche aus dem Stapel.
Hauptsächlich verkaufte die Dame aber Korsetts.
Natürlich wollte ich wissen, was ein Korsett ist und Mama meinte: „Das ist ein Monstrum, das die Damen zwingt, kürzer zu atmen! Der Stoff ist wie gestärkter Pappendeckel, den zwanzig Schnüre zusammenziehen.“ Schauderhaft! Ein Korsett wollte ich nie im Leben tragen, und ich bedauerte alle kurzatmige Damen, die hinter dem rosaroten Vorhang geheimnisvoll verschwanden.
Und weil ein kleines Mädchen die Probleme einer eingezwängten Figur gar nicht beurteilen konnte, hielt ich meinen Plappermund und betrachtete die Rüschen und Spitzen der Nachtgewänder und staunte, wie viel Unnötiges auf einer winzigen Fläche verarbeitet wurde. Mama sagte: „solche Dinge kaufen zweideutige Frauen.“ Aber eindeutig wusste ich damals nicht, was zweideutig bedeutete.
Manchmal bekam ich bei Frau Etzkorn Weißwäsche gekauft und Mama erklärte mir: „Weißt du, weiß ist eine saubere Farbe und bleibt immer neutral.“ Und so bekam ich erst in späteren Jahren kleine, schlichte Spitzeneinsätze in den Unterhemden und legte nie Wert darauf, Romantik unter dem Kleid zu tragen, die eh kein Mensch sieht.
An Frau Etzkorn denke ich noch manchmal, wenn mir eine Laufmasche im Strumpf herunter marschiert. Ich glaube, es gibt heutzutage gar keine Annahmestelle mehr für laufmaschengeschädigte Strümpfe. Die Menschen lassen sich eben nicht mehr in ein Sparkorsett zwingen, und doch wäre es so nötig!