Wie Männele zum Vornamen hieß, weiß ich nicht mehr, aber er machte seinem Namen alle Ehre. Er wirkte wie ein Männlein im Walde, schlug Purzelbäume im Gras, blieb nie an den Zäunen hängen, tauchte auf und verschwand und entkam als erster Frau Mosbachers Wasserkübel. Männele war sicher das achte Zwerglein von Schneewittchen, wovon die Gebrüder Grimm vergaßen zu erzählen.
Männele baute Sandburgen und wollte später wie sein Vater Maurer werden. Männele wollte mit dem Sandschäufelchen den ganzen Hof samt Spielwiese untertunneln, aber das Experiment scheiterte an den ersten dreißig Zentimetern. Männele wollte Strauchhütten bauen, aber das Vorhaben ging fehl, weil die Zweige im Boden nicht hielten. Männele wollte ein Zelt aufschlagen, aber sein Plan wurde zunichte gemacht, weil seine Mutter kein Bettlaken herunterwarf. Männele wollte viel und konnte wenig. Manchmal kam Herr Pilz in seinen langen weißen Unterhosen auf den Hof, aber von ihm wollte Männele kein Betttuch.
Männeles Eltern waren zwar arm, aber reinlich. Morgens sprang Männele blitzeblank gewaschen auf die Straße und abends kletterte er müde und schmutzig die ausgetretenen Holzstufen hoch.
Eines Morgens bekam Männele ein Schwesterle und das krähende Bündel hieß Brigitte. Männele liebte seine Brigitte und bewachte sie unnötig oft. Wir Kinder mochten das lebhafte Zwerglein und vermißten seine Gesellschaft. Manchmal stellte Frau R. das Töchterle in den Laufstall vor die Hütte und hinter Männele.
Männele war ein treuer Bruder bei Wind und Wetter und Nässe. Als Brigitte ein Jahr alt war, war sie ein dralles, braunhäutiges, liebes Mädchen mit einem dicken Schnulli. Sie fiel an Männeles Hand und zog sich an derselben wieder hoch. Manchmal fielen sie auch gemeinsam und standen gemeinsam wieder auf.
Für Männele gab es keine Standesunterschiede, denn sein Vater war ein Kommunist. Trotzdem ließ er mir meine Lakritze und konfiszierte nicht meine Lutschbonbons. Wusste er doch um meine soziale Ader und um meinen Verteilerdrang.
Männele hatte eine ganz liebe dicke Oma. Sie hatte ein sonnenbraunes rundes Gesicht und lauter weiße Löckchen auf dem Kopf. Sie trug kunterbunte Küchenschürzen und weiße Söckchen. Oft trug sie auch Brigitte auf dem Arm und freute sich an der lauten Kinderschar. Sie war eine sehr fleißige Oma und ging Frau R. fest zur Hand. Frau R. wusch den lieben langen Tag Strampelhöschen und Windeln und Windeln und Strampelhöschen. Sie war eine freundliche gutmütige Frau und die verjüngte Ausgabe von der Oma.
Herr R. war groß und hager, hatte aschblonde, schüttere Haare und eine Reihe vorstehender Zähne. Herr R. konnte daher lachen, auch wenn er ernst war. Später baute er vor unserem Eigenheim ein Mäuerchen aus Natursteinen und eine reizende romantische Treppe, auf der sich Efeu und Ginster ausbreiten durften.
Als die Onkel Tom-Hütte abgerissen wurde, zogen sie alle zusammen in einen neuen Wohnblock. Ich sah Männele nie wieder. Ich habe daher keine Ahnung, was aus dem kleinen hopsenden Bübchen wurde. Vielleicht baut er Brücken und Tunnels in Indien, vielleicht erstellt er Basthütten in Afrika, vielleicht hat er seine Zelte in Australien aufgeschlagen, vielleicht baute er sich ein Häuschen in deutschen Landen oder vielleicht zog es ihn doch zu Schneewittchen und er lebt heute hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen.
© Barbara Mitteis