Bruchsal, Bruchsaler Geschichten

Viele Milchkannen, 1 Pfund Quark und 10 mal „Lassmichheim“ am Bruchsaler Tratschbuckel

Für diese hübsche Geschichte von Barbara Mitteis bräuchte man ein klein wenig Schnee auf der Straße und im Garten, um die Fantasie ein klein wenig zu unterstützen. Vielleicht geht’s aber auch so. „Tratschbuckel“ wurde übrigens der Zäuneweg genannt (Seitenstraße zur Durlacher Straße). Tratschbuckel wohl, weil sich in den 50er, 60er Jahren die einkaufenden Frauen, auf dem Weg zum  Herrgottsmüller an der Ecke Neutor-, Durlacher Straße oder zum Milchmann Gänsmantel an der Ecke Zäuneweg, Durlacher Straße, dort trafen und …. tratschten. Der  Tratschladen Auch war ein Eckgebäude Zwerchstraße / Stadtgrabenstraße.

Mein Blick schweift aus dem Fenster und die Schneelandschaft versetzt mich ein halbes Jahrhundert zurück in jene Zeit, die die Armut prägte und dennoch einen kindlichen Reichtum bescherte. Weit entfernt einer trostlosen und trockenen Computerwelt ließen wir damals unsere Phantasie spielen. Die Schneeflöckchen nahmen Gestalt an und purzelten mit dicken weißen Wintermützchen und Mäntelchen und rot gefrorenen Nasen und Händchen auf die kalte Erde. Und ohne irgendeinen Reinkarnationsglauben formten sie sich in einen gestandenen Schneemann, der dann später in der wärmenden Märzensonne eine kleine traurige Lache wurde.

Ich erinnere mich noch gut, als sei es gestern gewesen, wie ich mit der Milchkanne zum Milchmann Gänsmantel geschickt wurde und mit dem leeren Blechmonstrum im tiefen Januar die Schlitterbahn spazieren fuhr. Und noch einmal und noch einmal, weil es halt so schön war in das glatte Ungewisse zu laufen, segelte ich dann letztendlich irgendwann auf den Allerwertesten, froh, dass die liebe Kanne keine zusätzliche Beule hatte. „Und dann soll ich noch ein Pfund Quark kaufen“ sagte ich zum Milchmann Gänsmantel, während er zwei Liter Milch abfüllte. Und im Winter klatschte er den weißen Käse auf ein Stück Butterbrotpapier und wickelte das Ganze in eine große Zeitung. „Heute tropft nichts, heute ist es bitterkalt“, meinte er und gab bis auf den Pfennig heraus. Er liebte und sammelte seine Roten, wie die Kommunisten ihre Leute auf dem Roten Platz. Der alte Mann wusste, dass ich vom Frühling bis zum Spätherbst die Quarkschüssel anschleppte, damit der nasse weiße Käse nicht durch das Zeitungspapier Trottoirspuren hinterließ. „Bleib aber nicht am Tratschbuckel hängen“ sagte Herr Gänsmantel und hob den rechten Zeigefinger. Ich nickte mit dem Köpfchen, nahm alles Kleingeld und wünschte einen guten Tag.

An dem Eckhaus lehnten und standen schon viele heile oder halbwegs kaputte Milchkannen und warteten auf die lieben Kleinen oder weniger lieben großen Lausbuben, die unter Gegröle ihre Schlitten den Abhang hinunter bewegten. „Stell die Kanne hin, sei kein Frosch, fahr mal mit!“ rief der Peter Stenglen und mit einem ganz großen schlechten Gewissen rodelte ich mit dem Nachbarbuben die waghalsigsten Kunststückchen herab. „Bahn frei, sonst gibt’s Kartoffelbrei!“, brüllte der Junge, und ich schielte auf meine Milchkanne und das Klumpenquarkpäckchen. „Lass mich heim“ flehte ich den Kufenfahrer an. Und nach dem zehnten Mal „Lassmichheim“ ließ er mich endlich gehen.

Ich entsinne mich noch mit einem gewissen Schmunzeln, wie sehr mein Kindergewissen drückte, und wie ich mir die ganze Strecke eine glaubwürdige Geschichte ausdachte, um die eiskalte Milch und den eiskalten Topfen zu erklären. Aber die Phantasie war doch größer, aus kleinen Schneeflöckchen kleine Turnerlein zu machen, und so blieb ich dann doch besser bei der Wahrheit, was nur eine kleine Strafpredigt bewirkte. Ich weiß auch noch gut, dass die Kinder oft von ihren Schlitten sprangen, die Milchkannendeckel hoben und sich zuriefen: „Die Milch hat noch keinen Eisrand!“ Meine Güte, was waren das noch harmlose Vergnügungen und es gab noch weit und breit kein Kinderanspruchsdenken.

Manchmal werde ich traurig, wenn ich aus einem Kindermund heutigentags lauter wüste Ausdrücke hören muss. Damals war es schon viel, wenn ein wohlerzogenes Kind dem anderen „Esel!“ oder „Kamel!“ oder „Rindvieh!“ zurief. Die nicht so wohlerzogenen Kinder griffen da schon tiefer in den Dialekt, aber man hat die Worte nie dankend angenommen. Ich weiß auch noch sehr gut, wenn meine Brüder zu mir sagten: „Das ist doch alles Quark“, dass sie dann eine Ermahnung bekamen. „Drück dich gefälligst schöner aus“, sagte ein Zeigefinger, der dem des Milchmanns Gänsmantel glich.

Die Zeiten haben sich verändert und vielleicht kommen ins Land noch Tage, wo nicht mehr Milch und Honig fließen, und wo ein Himmel nurmehr sauren Regen spendet?

© Barbara Mitteis

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