Bruchsal, Bruchsaler Geschichten

Der Mann mit dem goldenen Helm

Heute gibt es wieder zwei Geschichten von Frau Mitteis, diesesmal berichtet sie über die beiden Bruchsaler Buchhändler Fraißl und Ott & Braunbarth

„Mein Bruder erzählte mir täglich das Märchen vom kleinen dummen Mädchen und vom gescheiten großen Bruder. Und weil ich damals noch alle Märlein glaubte, so nahm ich auch jene Geschichte in meinem kleinen dummen Kinderherzen an. „Du und deine Hummel-, Spitzweg- und Spötl Karten!“ meinte er spöttelnd. Ja, Frans Hals, Rubens und Rembrandt, das waren Leute, mit denen man sich abzugeben hatte, wollte man gescheit dastehen. Und so marschierte ich eines Tages zu Frau Fraißl und in ihre kleine, mir liebgewordene Buchhandlung und suchte mir einen Rembrandt heraus, den man bei ihr billig erwerben konnte. Zehn Pfennige kostete eine Wiechmannkunstkarte und ich verzichtete auf eine Zehnerbrezel.

„Heute keine Hummelkarte?“ fragte Frau Fraißl freundlich hinter ihrer Ladentheke. Und wie ein kleiner Vaterlandsverräter stand ich da und schüttelte mit dem Köpfchen, weil ich den deutschsprachigen toten Künstlern untreu wurde. Bei Frau Fraißl gab es die schönsten Kinderbücher und verlockend lagen sie teilweise im Schaufenster und erforderten bei einem kleinen Mädchen die ganze Sparsamkeit.

So entsinne ich mich noch gut, wie sehr ich mich auf ein Buch freute, aber nur die Hälfte des Kaufpreises zusammenhatte. „Wie teuer ist denn das Buch?“ fragte ich die Buchhändlerin. „Fünfmarkachtzig, mein Kind. Hast Du es denn schon beisammen?“ Oh, nein, ich musste noch warten. Und warten war bei mir immer eine sehr schwierige Sache. Aber ich kannte da eine zweibeinige Bank mit einer dicken Lederbrieftasche und zu der wanderte ich mit tausend Kinderbitten auf den Lippen. Papa fragte ungerührt: „Und wieviel hast du schon für das Buch gespart?“ „Zweimarkneunzig“ antwortete ich treuherzig. „Aha, also die Hälfte! Dann geh zu Frau Fraißl und frag sie, ob sie dir das Buch nicht in zwei Hälften teilen und verkaufen könnte!“ Ich war entsetzt, denn Papa wirkte auf mich sonst sehr gescheit. „Das geht nicht“ sagte ich, „das macht sie nie!“ „Na, dann muß mein kleines Mädchen eben noch warten!“ Und mein langgezogenes „Oooch“ schien nicht zu wirken. „Zweimarkneunzig kriegst du nicht.“ Papa sah lächelnd in mein sorgenvolles Gesicht. „Du bekommst heute ausnahmsweise drei Mark, für den Rest kauf dir ein Himbeereis.“ Mitten im Winter. Das waren Papas Späße.

Ich flog zu der guten Buchhändlerin, ohne auf die Nase zu fallen. Sehr verwundert packte sie mir das Buch „Brüder sind nicht mit Geld zu bezahlen“ ein. Die Sparzeit war ja im Nu vorüber. Ich besitze das Buch immer noch, auch den Mann mit dem goldenen Helm, der in irgendeiner Schachtel steckt. Diesen Mann habe ich nie geliebt, war er doch einst ein Notkauf, ja fast ein Freikauf, nicht ewig töricht wirken zu müssen. Frau Fraißls Kinderbücher besitze ich immer noch und gebe sie auch nicht her.

Manchmal sehe ich noch das Gesicht der schicksalsgeprüften Wittfrau und wie sie sich mit freuen konnte, wenn ich ein neues Buch erwerben durfte. „Hast du wieder fleißig gespart?“, fragte sie dann, Silber- und Messinggeld abzählend entgegenzunehmen. „Oh ja, und manchmal, wenn das Taschengeld nicht ausreicht, dann gibt Papa den Rest“, antwortete ich ehrlich.

Lesen bildet. Aber es muss die richtige Lektüre sein und es muss der richtige Laden sein, dann macht gegebenes Wissen auch richtig Freude. Es gibt so viele Leute mit angelesenem Wissen. Wenn aber ein Leben aus lauter Theorie besteht und die Praxis nie richtig aufgesucht wurde, dann mag zwar die Bildung vorherrschen, die Herzensbildung bleibt jedoch auf der Strecke.

Manchmal, wenn Frau Fraißl ein dringend benötigtes Buch nicht vorrätig hatte, sagte ich zu Mama: „Ich geh mal zu Herrn Ott und Braunbarth und versuche es dort!“ Mama erklärte mir eines Tages lachend, dass es nicht Herr Ott und Braunbarth hieße, weil die beiden Nachnamen zwei verschiedene Personen ergaben. Das & über dem Laden verwirrte mich sehr und wir hatten es in dem ersten Schuljahr noch nicht identifizieren müssen.

Herr Ott war ein älterer stiller Mann mit einer goldenen Brille auf der Nase, der englische Pfeffer- und Salzanzüge trug und ewig in dicken Katalogen blätterte. Herr Braunbarth war jünger, beweglicher und auch freundlicher und sah dem Adolf vom Tausendjährigen Reich schon deshalb gleich, weil er den selben Haarschnitt hatte und das gleiche Bärtchen trug. Nur war sein Gesicht sehr sympathisch und er brachte nur die Beine, nicht aber die Massen in Bewegung.

Herr Braunbarth hatte etliche Buben und Mädchen, die ihm ungemein ähnlich sahen, nur dass die Mädchen natürlich keine Schnurrbärte trugen. Frau Braunbarth bekam ich nie zu Gesicht, aber es kann ja sein, dass sie sich im Hintergrund mehr um ihr Haushaltsbuch und um die Geschäftsbücher kümmerte. Der Laden war alt und ganz anders als das Geschäft von Frau Fraißl. Dicke alte Balken stützten die Decke und dicke alte Holzregale stützten die Buchreihen und hielten die Autoren und die Fachrichtungen zusammen. Die Luft im Raum war trocken und die Atmosphäre ähnelte sehr der Amerikanischen Bibliothek.

Wenn ich den Laden betrat, hatte ich aber viel mehr Staunen in mir, als wenn ich zu Frau Fraißl oder zu Miss Amerika marschierte. Alles ging dort anders zu. Da wurden alte Karteien durchgeblättert, ein altes Telefon bedient und alte Kundschaft bevorzugt. Der Herr Ott lief vom Telefon zum Katalog und vom Nachschlagewerk zum Hörer und der Herr Braunbarth kletterte die Wände hoch, um ganz am Ende die ABC-Lektüre herauszufischen. Hätte ich mir einmal träumen lassen, später einmal, unwissend zwischen all dem Wissen, einen Berg Bildung anhäufen zu müssen?

Die feine und ruhige Art der beiden Herren Ott und Braunbarth gefiel mir und ich behielt jene Buchhändler in guter Erinnerung. Ich beschäftigte mich im Beruf mit sämtlicher Fachliteratur ohne sie zu lesen. Ich forschte, bestellte, verkaufte, ohne die Nasenspitze in die verzwickten Seiten zu stecken. LITERATUR – das war meine Aufgabe und Freude. Heute frage ich mich oft, warum ich statt Biografien so gerne Romane las. Romane sind etwas Erdichtetes, etwas gedanklich Zusammengefügtes, etwas künstlich Geschaffenes. Ich finde heute keinen Gefallen mehr an Romanen. Man muss an der Wirklichkeit Gefallen finden und das Leben schreibt eben die echtesten Geschichten!“

© Barbara Mitteis

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